– Eine Spanierin in einem Berliner Chor –
Wie kommt die damals einzige Ausländerin (Quotenwessies ausgenommen) in einen Berliner Chor? Durch einen höflichen Small-talk mit ihrer Nachbarin Steffi: “Ach, du singst im Chor? … Schön… Ich wollte immer mal im Chor singen.” – und dann wurde ich mit einem bestimmten und nicht abzulehnenden “Super, dann hole ich dich am Dienstag ab” von Steffi im Auto zur Chorprobe mitgenommen. So wurde aus meinem Dienstags-Sport-Tag der Dienstags-Chor-Tag. Hoffentlich fährt “la Merkel” mein Land mit so einer sicheren Hand aus der Krise, wie Steffi mich damals in ihrem warmen Ford zum Andreas-Gemeindesaal führte.
Das Haus der Andreas-Gemeinde beherbergte trotz des ominösen weißen Kreuzes an der Fassade keine Sekte von Verschwörungstheoretikern, sondern eine nette, humorvolle Gruppe musikbegeisterter Berliner mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Im Mittelpunkt unsere große, kleine Leiterin, mit einem rojo pasión bekleidet. Keine Verschwörungstheoretiker, aber schon irgendwo Fanatiker, denn Chorleben auf Deutsch bedeutet, sich kompromisslos zu engagieren und auf andere Interessen, sogar auf die eine oder andere Pflicht zu verzichten. In meiner Sprache gibt es das Wort “Chorleben” nicht. Nicht nur, weil derart kreative Wortbildungen nicht erlaubt sind, sondern weil diese Leidenschaft für gemeinsames Musizieren (ohne beschwipst zu sein) nicht so verbreitet ist.
Unser Chor besitzt Regierungsstrukturen und demokratische Abläufe (Vorstandssitzungen, Wahlen, Jahresversammlungen…) und die Aufgaben sind so vorbildlich verteilt – jede kleine Republik würde uns um diese Strukturen beneiden! Sollte die BRD auseinander fallen, könnte die CES-Republik weiterhin, ganz autonom existieren. Für die Versorgung der Bevölkerung wären die Altistinnen zuständig. In der Nachbarstimmgruppe wird jede Probe zur Tupperparty: exotische Salate, frisches Obst, herzhafte Stullen, energiegeladene Reiswaffeln werden rumgereicht, während (in Spanien völlig unbekannte) Kräutertees die Runde machen, wohltuend für Rachen und Seele… es wäre nicht auszuhalten, wenn ich mich nicht auf mein Après-Probe-Abendessen zur spanischen Uhrzeit freuen könnte.
Ich wurde in der CES-Republik trotz Mangel an Musikkenntnissen und Exzess an rollenden Rs und Umlauten (wie jeder Ausländer weiß: je mehr Umlaute, desto Deutscher klingt die Sprache) vom Anfang an herzlich empfangen und begrüßt… begrüßt mal mit offenen Armen, mal mit einarmigem, schnellen Drücken, mal mit einem lässigen “Grüß dich” und Winken, mal mit einem Handschlag, mal mit einem Kuss an der Wange… manche Chormitglieder küssen sich sogar auf den Mund – unsere Proben sind ein echtes Grußkamasutra!!
Am Anfang war ich mir so unsicher, wie ich mich den anderen Chormitgliedern gegenüber zu verhalten hatte, dass ich mit Absicht 10-15 Minuten zu spät kam… da wurde ich von den Einheimischen übertrumpft, denn Pünktlichkeit kommt unserem Chor spanisch vor. Wir treffen uns immer pünktlich 15 Minuten zu spät oder mehr. Ich wäre dafür, bei der nächsten Jahresversammlung einen CES-Gruß einzuführen – etwa wie einen Hip-Hop Handschlag.
In meinen fast zwei Jahren Chorleben habe ich also kein bisschen Ausländerfeindlichkeit gespürt. Ganz im Gegenteil: Ob ich zu laut, zu tief oder regelrecht falsch gesungen habe, immer galt die Entschuldigung “Das ist ihr spanisches Temperament und darauf wollen wir nicht verzichten!” Nur Sascha verfügt über mehr spanische Lautstärke.
Ein einziger Fauxpas in der Zeit wurde mir nicht entschuldigt und mir von verschiedenen Leute vorgeworfen: Das Konzert, auf dem ich meine braunen Stiefel nicht gegen die vorgeschriebenen schwarzen Schuhe ausgetauscht habe. Dass ich schwanger war und meine Füße unter meinem Bauch nicht sehen konnte, galt nicht als Entschuldigung. Braun mag das neue Schwarz sein, ist aber trotzdem ein No-Go!
Die Kleiderordnung ist immer großes Thema in unserem modebewussten Chor. Vielleicht, um uns gegenseitig zu kontrollieren, ziehen sich vor den Konzerten alle Mitsänger (Männer, Frauen und Tenöre) im gleichen Raum um. Für mich ein kleiner Kulturschock: Das wäre in Spanien undenkbar – FKK im Dienst der Kultur! Spanische Frauen würden Schlange vor der Toilette stehen, um sich in Paaren umzuziehen und sich einander zu belügen, welche Accessoires der anderen besser stehen.
Weltoffenheit zeigt unser Chor auch bei der Liederauswahl: Polnisch, Schwedisch, Französisch, neuerdings (dank Emese) auch Ungarisch gehören zum Repertoire… Weihnachten 2011 war endlich, als Geschenk für mich, auch Spanisch vertreten! Das hat für große Aufregung gesorgt. Meine Mitsänger, die ohne zu zögern echte phonetische Zungenbrecher wie Esti dal oder Szeroka woda aussprechen und die richtige Töne dazu treffen, haben sich vor den Elefanten und Mücken des süßen Weihnachtsliedes gefürchtet. Jeder Einsatz der Männer war Spannung pur – aber mit einfachen Eselsbrücken (aus “le hagan” wurde “Lehrgang”) und mit Yokos Coaching (meine kastillianische Aussprache war viel zu hart für das zarte mexikanische Lied) haben wir das Lied gut über die Bühne gebracht. Ich bin auf meine Alemanes sehr stolz!
Ein sehr schöner Aspekt des Chorlebens sind die Konzerte und Chorfahrten, die mir gezeigt haben, dass es ein Leben jenseits der Ringbahn gibt. Die rechtzeitige Organisation erfordert eine akribische Planung. Alle Chormitglieder werden so weit im voraus danach gefragt, wann sie Zeit haben, dass es für eine Spanierin wie mich wie eine Prophezeiung oder einfach Science Fiction erscheint, diese Frage zu beantworten. Ich würde mich nicht wundern, wenn CES das Olympische Komitee wegen der Spiele in Rio 2016 kontaktieren und es bitten würde, die Zeiten der 100-Meter-Läufe zu ändern, weil diese mit unserem Konzert bei der Fête de la Musique kollidieren.
Die Zeit mit meinen Chorkameraden und die Intensität der Proben außerhalb Berlins ist immer ein Genuss und die einzigartige Möglichkeit mit “echten Berlinern”, die ich ansonsten nie kennengelernt hätte, Zeit zu verbringen. Weniger genießbar, aber auch Teil der Erfahrung, sind das kalte Abendbrot in der Jugendherberge noch fünf Stunden vor dem Schlafengehen und die warmen alkoholischen Getränke beim gemütlichen Beisammensein am Abend. Die Besorgung von Eiswürfeln für “los gintonics y cubatas” (kurz für Cuba Libre) nach dem Konzert wäre bestimmt ein wichtiges Thema bei der Vorstandssitzung eines spanischen Chores.
Danke CESsies, dass ihr mich mit dem Chor-Wahnsinn angesteckt habt. Danke Yvonne (CES-echtes Temperament), für die Möglichkeit so viel zu lernen, nicht nur über Musik, sondern über die Deutschen, ihre Seele, ihre Sprache und über ihren HUMOR! Ich bin schon gespannt, welche spanischen Titel wir beim 20. Jubiläum singen werden.